Komatrinken

 

Guten Abend Frau Mergent, wir mussten ihrem Sohn den Magen auspumpen.“

Hallo Frank“, sagte die Frau, die mir in dem kleinen Besprechungszimmer gegenüber auf dem Stuhl saß.

Die Entgegnung war zwar nicht sehr passend, überraschte mich aber nicht. Schon bei der Einlieferung in die Klinik um 23.15 Uhr war mir der nicht alltägliche Nachname des Sechzehnjährigen aufgefallen. Erinnerungen an lang vergessene, oder sollte ich sagen verdrängte Zeiten, kamen in mir hoch und jetzt saß mir eine dieser Erinnerungen gegenüber.

Hallo Claudia“, antwortete ich und verglich ihre jetzige Erscheinung mit den Bildern aus der Vergangenheit.

Claudia im roten Kleid, Claudias Parfum, Claudia in meinem Bett. Kaum etwas an ihr erinnerte an diese glücklichen Zeiten. Ihr Äußeres deutete auf bewegte Zeiten hin und das Leben hatte tiefe Furchen in ihr Gesicht gezogen.

Thomas ist in schlechter Gesellschaft und sein Vater ist auch kein gutes Vorbild für Alkoholfreiheit“, versuchte sie das Verhalten ihres Sohnes zu entschuldigen.

Komatrinken kommt in allen Gesellschaftsschichten vor“, beruhigte ich sie.

Mein Gott, jetzt fing ich schon an zu reden wie ein Dozent an der Uni.

Wie geht es dir?“, fragte ich sie und überspielte meine Unsicherheit.

Kurze Erinnerungsfetzen an meinen Vater, Professor.Dr.Dr. Reifenberg, überdeckten die farbig duftenden Bilder an meine damalige Freundin. Ich sehe sein immer glattrasiertes Gesicht direkt vor mir. „Diese Claudia ist nichts für dich. Sie passt nicht in unsere Familie. Eine Verkäuferin und ein angehender Arzt, undenkbar“, hatte er bei jeder Gelegenheit verkündet.

In meiner damals naiven Art hatte ich ihm geglaubt und mich von Claudia getrennt.

Oder war der wahre Grund der Verlust seiner Anerkennung? Selbst aus meiner zweiundvierzigjährigen Sicht fiel mir eine Beurteilung der damaligen Geschehnisse schwer.

Claudias Antwort auf meine Frage riss mich aus meinen Gedanken. „Ich schlage mich so durchs Leben. Jürgen und ich sind seit einem Jahr geschieden.“

Das Karussell meiner Erinnerungen drehte sich wieder.

Jürgen Mergent, einst mein bester Freund und Kommilitone.

Zu wenig studiert, zu viel gefeiert, zu viel getrunken.

Nach dem Ende meiner Beziehung mit Claudia hatte er sich sofort an sie rangemacht, als hätte er nur auf diese Gelegenheit gewartet. Kurze Zeit darauf brach er das Studium ab. Die Beiden heirateten, und wanderten nach Australien aus.

Australien war wohl nicht der große Wurf?“, vermutete ich.

Claudias traurige Augen sprachen Bände.

Ich war bei unserer Hochzeit schon im dritten Monat schwanger und mit einem Baby und einem Alkoholiker in Australien ein neues Leben anzufangen, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.“

Ein flaues Gefühl machte sich in meinem Magen breit und meine Gedanken rotierten. Jürgen und Claudia hatten sehr schnell geheiratet, und wenn sie bei der Hochzeit schon im dritten Monat schwanger war, konnte es sein dass...?

Kann ich irgendetwas für dich tun?“, fragte ich aus meiner aufdämmernden Erkenntnis heraus.

Nein danke, du hast schon genug getan. Kann ich Thomas morgen abholen?“, fragte sie und kreuzte die Arme. Ihre ganze Körperhaltung drückte den Abstand der Jahre aus.

Morgen Mittag wird er wohl wieder auf den Beinen sein“, antwortete ich.

Tausend Fragen an Claudia schossen mir durch den Kopf.

Ich stellte keine.

Ich hätte ihr meine private Telefonnummer geben können, doch ich tat es nicht.

Gut, ich komme ihn dann abholen“, sagte sie, stand auf, strich ihr Kleid glatt und öffnete die Tür.

Ich hab dann keinen Dienst“, flüsterte ich zu mir selbst, denn Claudia war schon längst gegangen.

Wir hatten bei Thomas natürlich eine Blutprobe entnommen und über einen Vaterschaftstest würde ich mir Gewissheit verschaffen können.

Wollte ich das?

Meine Hände fingen an zu zittern und in meinem Kopf vermischten sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem milchigen Brei.

Meine Augen suchten die Umhängetasche an der Garderobe; meine Hände holten die Flasche heraus und schrauben den Deckel ab; durch meine Kehle brannte sich die hochprozentige Flüssigkeit ihren Weg zu meinen Eingeweiden.

Erleichtert stellte ich fest, wie der Alkohol Vergangenes und Zukünftiges wegspülte und nur noch das Jetzt übrig ließ.

 

ENDE