Ausflug zur Biowelt

 

Wenn wir jetzt hinausgehen, werden wir von einer Sphärenblase vor den Umwelteinflüssen geschützt“, sagte 376-ARC-37. „Deshalb ist es sehr wichtig, dass ihr mir in einem Maximalabstand von 20 Metern folgt“, fuhr der Lehrer der Technowelt fort.

Langsam senkte sich die Rampe des kleinen Raumschiffs auf den grasbewachsenen Boden. Die zehn Schüler folgten mit vorsichtigen Schritten ihrem Lehrer und setzten ihre Stiefel zum ersten Mal auf eine fremde Welt.

Wie ihr seht, werden selbst die Ladefelder auf der Biowelt weitgehend der Natur überlassen. Da die Bewohner sich selbst versorgen und kaum Handelsbeziehungen zu anderen Welten der Community haben, fallen ihre Weltraumbahnhöfe auch entsprechend klein aus.“

405-ARC-13 sah sich staunend um. Wie alle Schüler, so hatte auch er einen grauen Ganzkörperanzug angezogen, der nur sein Gesicht freiließ.

Zu unterscheiden waren die Kinder auch nur durch die Bezeichnungsschilder auf ihren Anzügen. Ob Mädchen oder Jungen; alle hatten die gleiche Größe und ihre Gesichter glichen sich wie eine Schraube der anderen.

405-ARC-13 ging als Letzter der Gruppe hinter den Anderen.

Diese Unordnung macht mir Angst, dachte er, als er die verschiedenartigen Gebäude erblickte. Manche waren groß und rund, andere wieder klein und rechteckig; aber alle Häuser fügten sich harmonisch in die Umgebung ein und waren mit Pflanzen bewachsen.

Trotz der Sphärenblase, die alle Umwelteinflüsse von ihnen abhielt und die Temperatur immer gleichbleibend auf zwanzig Grad hielt, fühlte sich 405-ARC-13 nicht ganz wohl. Zwar gab es bei ihnen auf der Technowelt auch Pflanzen, aber die waren alle schön gleichmäßig und wuchsen innerhalb von festgelegten Grenzen.

Vorsichtig bewegte sich die Gruppe auf den angrenzenden Wald zu.

Die Bäume waren bedrohlich groß und schienen mit ihren ausladenden Ästen nach den fremden Eindringlingen greifen zu wollen.

405-ARC-13 wurde immer langsamer.

Was für eine seltsame Welt, wie konnten hier nur Menschen wohnen?

Der Weg führte oberhalb an einem Tal vorbei. Er wurde immer schmaler und steiniger. 405-ARC-13 war fasziniert und verwirrt zugleich von den vielen neuen Eindrücken. Erst jetzt bemerkte er, dass die Anderen schon weit vor ihm waren und er begann zu laufen.

Da geschah es.

Der Stein unter seinem rechten Fuß rutschte weg und 13 verlor das Gleichgewicht. Er wollte schreien, um Hilfe rufen, aber seine Stimme versagte. Dann kullerte er, mit den Händen um sich greifend, den Hang hinunter und blieb nach gefühlten hundert Umdrehungen im weichen Moos liegen. Alle Knochen taten ihm weh und mit einem Mal, ohne die schützende Sphärenblase, spürte er auch die wärmenden Strahlen der Sonne und die hohe Luftfeuchtigkeit in seinem Gesicht.

Verzweifelt öffnete 13 die Anzugstasche. Jeder Schüler hatte hier seinen Melder eingesteckt, der im Notfall ein Signal an den Lehrer senden konnte.

13 schluckte, das Display war in der Mitte durchgebrochen. Trotzdem versuchte er das Gerät einzuschalten. Nach vielen erfolglosen Versuchen begriff er auf einmal, dass er damit nur wertvolle Zeit verschwendete. Also tat er das, was er eigentlich direkt hätte tun sollen.

Hilfe! Ich bin den Abhang hinunter gefallen! Hilfe!“, rief er, so laut er konnte.

Keine Antwort.

Auf der Technowelt war es nie nötig gewesen laut zu rufen. Deshalb war die Stimme von 405-ARC-13 auch nicht sehr kräftig. Außerdem hatte er mit dem defekten Melder zu viel Zeit verloren und die Gruppe war schon außer Hörweite.

Die werden bestimmt bald merken, dass ich fehle und mich suchen, dachte er.

13 versuchte sich zu beruhigen und atmete tief ein. Die Luft roch ganz anders als Zuhause, oder in der Sphärenblase, bemerkte er. Eigentlich roch die Luft auf der Technowelt nach gar nichts. Hier jedoch war alles anders.

13 nahm noch einmal einen tiefen Zug und streckte dabei die Zunge heraus, als könne er die Luft auch schmecken.

Ja genau, das war der Geruch von Deo 35.

405-ARC-13 war verblüfft.

Wie kam dieser tolle Geruch nur hier in die Wildnis?

Eigentlich war es ja still hier im Wald; aber jetzt, da 13 sich etwas beruhigt hatte, hörte er das Lied des Waldes. Überall knisterte, raschelte und knackte etwas. Klar, er wusste von dem Lehrer, dass es im Wald viele Tiere gab, von denen die wenigsten dem Menschen gefährlich werden konnten; trotzdem fürchtete er sich.

Was bist du denn für einer?“, ertönte plötzlich eine helle Stimme.

Erschrocken sah sich 13 um und erblickte einen kleinen Menschen, etwas kleiner als er selbst, wahrscheinlich auch noch ein Kind.

Aber wie sah dieses Kind nur aus?

13 kannte außer dem Ganzkörperanzug keine anderen Oberbekleidungsstücke und wunderte sich sehr. Dieses Kind hatte zwei Kleidungsstücke angezogen. Das Untere war blau und an vielen Stellen nur dürftig mit anderen Stofffetzen geflickt. Das obere Kleidungsstück war rot mit bunten Punkten und bedeckte die Haut nur bis zu den Unterarmen.

13 starrte das Kind von der Biowelt erstaunt an.

Du hast wohl noch nie ein Mädchen gesehen?“, rief das Kind und sprang flink auf 13 zu.

Natürlich kannte er Mädchen. Die sahen auf der Technowelt aber nicht viel anders aus als die Jungen. Diese Ausgabe eines Mädchen, das ihm nun direkt gegenüberstand, hatte 13 aber noch nie gesehen.

Schau dich doch lieber selbst an. Was ist das den für ein lächerlicher Anzug, den du da angezogen hast?“, fragte das Mädchen und schüttelte dabei den Kopf, sodass ihre Zöpfe durch die Luft flogen.

Was sind das für lange, dicke Fäden, die da aus deinem Kopf kommen?“, fragte 13 anstatt einer Antwort.

Das sind Haare, du Dummerchen. Ich heiße übrigens Pippilotta, nach Pippi Langstrumpf aus dem Buch, weißt du. Und wie heißt du?“

13 hatte sich mittlerweile wieder beruhigt und war eigentlich ganz froh darüber einem Menschen begegnet zu sein, obwohl diese Begegnung ihn doch sehr verwirrte und er nicht wusste, was ein Buch war.

Meine Bezeichnung lautet 405-ARC-13“, verkündete er stolz.

Was soll das denn für ein Name sein?“ Pippilotta schüttelte noch heftiger ihren Kopf.

Ich bin im Jahr 405 nach der Besiedlung der Technowelt in der Brutstätte ARC als Dreizehnter aus der Brutkammer gestiegen“, erklärte 13 dem Mädchen.

Wie bescheuert! Ich werde dich vorerst 13 nennen, bis mir ein passender Name für dich eingefallen ist. Jetzt zieh aber erst mal diesen bekloppten Anzug aus. Du musst ja darin schwitzen wie ein Eisbär im Sommer. Ich hoffe du hast noch eine Unterhose darunter, denn ganz ohne Hose wird dich mein Opa bestimmt nicht in seine Hütte lassen.“

Das Mädchen redete und redete. 13 hatte noch nie jemanden so viel Quatschen hören.

Was ist ein Opa?“, fragte er, während er sich von seinem Ganzkörperanzug befreite.

Zu Pippilottas Erleichterung hatte der fremde Junge eine Unterhose an.

Du weißt also nicht, was ein Großvater ist? Und einen Vater und eine Mutter kennst du wohl auch nicht?“, fragte Pippilotta erstaunt zurück.

Dunkel erinnerte sich 13 an den Historienunterricht in der Schule.

Opa, Großvater, Vater, Mutter; das waren alles Bezeichnungen von Verwandtschaftsverhältnissen.

Bei uns auf der Technowelt gibt es keine Verwandtschaft. Wir werden alle künstlich erzeugt und bleiben bis zu unserem sechsten Erzeugungsjahr in der Brutkammer“, antwortete er.

Da hast du aber einiges verpasst,“ sagte Pippilotta bedauernd, "ich liebe meine Eltern und meinen Opa über alles.“

Es war schon ein komisches Gefühl, wie er so dastand. Nackt, nur mit der grauen Unterhose bekleidet, dem warmen Wind ausgeliefert. Merkwürdigerweise war ihm dieses Gefühl aber nicht unangenehm.

Plötzlich fing Pippilotta an zu laufen, winkte 13 zu und rief: "Komm mit!“

Zaghaft setzte 13 einen Fuß vor den anderen. Er spürte den moosbewachsenen Waldboden unter seinen Füßen; er hörte die Vögel zwitschern; er sah riesige Bäume und die unterschiedlichsten Sträucher; er roch den erdigen Geruch des Waldes. 405-ARC-13 fühlte eine nie gekannte Leichtigkeit.

Ausgelassen wurde er immer schneller und rannte hinter Pippilotta her, bis sie an eine Lichtung kamen, auf der eine Hütte stand.

Lass uns zuerst einen Apfel essen!“, rief das Mädchen. Pippilotta hatte schon den Baum, der direkt vor der Hütte stand, erreicht und stieg die daran angelegte Leiter hoch.

Hier, fang!“ Schnell warf sie 13 einen Apfel zu, der schnaufend und schwitzend am Baum angekommen war.

405-ARC-13 fing den Apfel im allerletzten Moment auf und sah ihn sich skeptisch an. Er hatte noch nie in so etwas Unregelmäßiges reingebissen. Dafür roch dieser Apfel aber genau so, wie sein geliebter Energieriegel 28, nur viel, viel besser.

Jetzt spürte er auch den großen Hunger, der sich nach dem ungewohnten Laufen eingestellt hatte. Er nahm allen Mut zusammen und biss in den Apfel.

Krachend gab der Apfel nach und sein saftiger Inhalt verteilte sich im Mund von 13. Unglaublich, dachte er bei sich, dieser Apfel bietet nicht nur Nahrung, sondern löscht auch noch den Durst.

Hallo Opa, wir haben einen Gast!“ Pippilotta war mittlerweile schon wieder von der Leiter herunter gestiegen und stand in der Hütte. „Er heißt irgendetwas mit 13. Aber ich werde schon einen passenden Namen für ihn finden.“

Hallo 13, willkommen in meiner bescheidenen Hütte“, sagte der Opa, als wäre es das Normalste von der Welt das Pippilotta Besucher in der Unterhose mitbringen würde.

405-ARC-13 staunte und staunte.

Die Hütte war aus demselben Material wie die Bäume im Wald und roch auch so. Der Opa des Mädchens hatte die langen Fäden, die Pippilotta Haare genannt hatte, nicht nur auf dem Kopf, sondern auch im Gesicht.

Es waren so unglaublich viele neue Eindrücke, die über 13 herfielen, dass ihm fast schwindelig wurde.

Doch Pippilotta ließ ihm keine Verschnaufpause.

Komm her, ich will dir meine Bücher zeigen. Die sind tausend Mal besser als so ein doofer Lesecomputer.“ Sofort ergriff sie seine Hand und zog den verblüfften Jungen in einen anderen Raum.

Das ist mein Reich!“, verkündete das Mädchen stolz und breitete ihre Arme aus.

In dem Zimmer stand an der einen Wand ein Bett, an der anderen ein Schreibtisch und an der dritten Wand stand ein vollgestopftes Regal.

Das müssen diese Bücher sein, dachte 13.

Hier ist mein Lieblingsbuch. Die Abenteuer des Huckleberry Finn.“

Zielsicher hatte Pippilotta ein Buch aus dem Regal herausgezogen und legte es dem Jungen in die Hände.

13 betrachtete das Buch und suchte verzweifelt nach den Tasten zum Umblättern.

So geht das“, erläuterte Pippilotta und schlug das Buch auf.

Fasziniert fühlte 13 das raue Papier unter seinen Fingern und begutachtete die aufgeschlagenen Seiten. Auf der einen Seite war der Text zu sehen. Die andere Seite zeigte eine Zeichnung, auf der ein Junge und ein erwachsener, dunkler Mann zu sehen waren. Beide standen auf einer Art Schiff, aus Baumstämmen zusammenbebaut wie diese Hütte, und schwammen damit auf einem Fluss.

Das ist Huckleberry Finn und das dort ist Jim“, sagte das Mädchen begeistert und zeigte auf die Figuren. „Beide lieben die Wildnis und die Freiheit und erleben viele tolle Abenteuer.“

Pippilotta blätterte mit 13 zusammen das ganze Buch von vorne nach hinten durch. Jedes Mal wenn eine Zeichnung zu sehen war, erklärte sie dem Jungen von der Technowelt die dargestellte Szene.

Beide waren so vertieft in das Buch, dass sie nicht merkten, wie ein weiterer Besucher die Hütte betrat.

405-ARC-13, zieh sofort deinen Anzug wieder an und komm mit!“

In der Mitte der Hütte stand sein Lehrer, den Ganzkörperanzug von 13 über dem Arm. Er hatte ihn gesucht, den Anzug gefunden und seine Spur bis zur Hütte verfolgt. Mit keinem Wort erkundigte er sich nach den Umständen, die 13 hierhin geführt hatten.

Jetzt mal nicht so einen Ton in meiner Hütte!“, fuhr der Opa den Lehrer an.

Pippilottas Großvater hatte sich direkt vor den Lehrer gestellt und schaute ihm grimmig in die Augen. „Wenn der Junge noch etwas bleiben möchte, so soll er dies ruhig tun.“

Doch Ungehorsam gab es auf der Technowelt nicht und so zog 405-ARC-13 mit gemischten Gefühlen seinen Ganzkörperanzug wieder an.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte der Lehrer sich um und verließ augenblicklich die Hütte.

Als Pippilotta sah, wie 13 dem Lehrer nach draußen folgte, rief sie ihm zu: "Warte noch einen kleinen Moment!“

Das Mädchen rannte in ihr Zimmer, nahm einen Zettel und schrieb etwas auf. Dann ging sie zu 13 und steckte ihm wortlos den Zettel in die Hand.

Mechanisch folgte 405-ARC-13 seinem Lehrer, der gerade achtlos an dem Apfelbaum vorbeischritt.

Zuviel war in den letzten Stunden passiert. 13 fühlte sich total leer und ausgebrannt. Wie gerne wäre er noch bei Pippilotta und ihrem Großvater geblieben.

Plötzlich erinnerte er sich an den Zettel in seiner Hand.

405-ARC-13 verlangsamte seinen Schritt und blieb schließlich stehen.

Zaghaft faltete er das Papier auseinander.

Dein Name ist Huckleberry“, stand dort.

Ein nie gekanntes Kribbeln fuhr durch seinen Körper.

405-ARC-13/Huckleberry zog seinen Ganzkörperanzug wieder aus, drehte sich herum und lief lachend zur Hütte zurück.